Die San

Die San – Überlebenskünstler des 20. Jahrhunderts

von Dr. Stefan Eisenhofer, Ethnologe

Die Buschleute oder San bewohnen seit Jahrhunderten das gesamte südliche Afrika. Durch das Vordringen europäischer Siedler und benachbarter afrikanischer Gesellschaften wurde ihr Lebensraum vor allem seit dem 17. Jahrhundert jedoch immer stärker eingeschränkt. Verfolgung, Vertreibung und Ausbeutung ihrer Arbeitskraft führten zunehmend zum Verlust ihrer unabhängigen Existenz und Lebensweise. Heute leben noch ungefähr 100.000 Buschleute vorwiegend in den Staaten Botswana, Namibia, Angola und in der Republik Südafrika. In Europa populär sind vor allem jene San-Gruppen, die in den kargen Halbwüsten des südlichen Afrikas als Jäger und Sammler lebten und leben.

Über diese Gruppen bestehen zahlreiche Klischees, die vor allem durch erfolgreiche Spielfilme wie „Die Götter müssen verrückt sein“ oder durch spektakuläre Reportagen über angebliche „letzte Steinzeitmenschen“ weithin propagiert wurden.

Eine Einordnung der Buschleute als „lebende Fossilien“ ist jedoch in höchstem Maße irreführend. Die San verharrten nämlich keineswegs über Jahrtausende in einer steinzeitlichen Lebensform und Wirtschaftsweise. Sie sind kein „Fenster in die Frühzeit der Menschheitsgeschichte“. Es ist zwar durchaus so, daß zahlreiche San-Gruppen als Jäger und Sammler gelebt haben und in einigen entlegenen Winkeln noch heute leben. Aber neueste Forschungen sprechen dagegen, daß diese Gruppen in jedem Fall für sehr lange Zeit so gelebt haben. Vielmehr zeigt sich in diesen Gesellschaften eine ungeheure Dynamik. So fand offenbar im südlichen Afrika nicht nur ein dauernder Austausch zwischen JägerSammlern, Hirten und Pflanzern statt, häufig wurden auch Wildbeutergruppen zu Hirten und umgekehrt.

Regelmäßig wurden die San mit dem abwertenden Adjektiv „herumstreunend“ belegt. Diese Ansicht verkennt allerdings fundamental, daß „Jäger- und Sammler-Sein“ nicht bedeutet, daß man ziel- und planlos umherzieht, sondern daß eine solche Lebensform nur auf der Grundlage genauester Kenntnis des Lebensraumes möglich ist. Gerade in einer eher menschenfeindlichen Umwelt wie den Halbwüsten des südlichen Afrika muß man genau wissen, wo und wann Wasserstellen, reife Nahrungspflanzen, Heilkräuter und Jagdtiere zu finden sind. Kleinste Fehler und Unachtsamkeiten können zum Tod der ganzen Gruppe führen.

Bei den Buschleuten gab es keine übergeordnete politische Struktur. In der Regel lebten sie in Gruppen, die eine Größe von 20 bis 100 Menschen nicht überstiegen. Kennzeichnend für ihre gesellschaftliche Organisation ist außerdem, daß es zahlreiche soziale Mechanismen gibt, die das Anhäufen von Gütern und individuellem Besitz verhindern. Gefördert wird dagegen Selbstbeschränkung und Umverteilung. Beispielsweise jagen Jäger oft mit fremden Pfeilen, was bedeutet, daß das Jagdglück nicht so sehr am Jäger, sondern eher am Pfeil hängt, dessen Besitzer die Verteilung der Beute bestimmen darf.

Zudem sind die Buschleute eine sogenannte nicht patriarchale Gesellschaft. Das heißt, Frauen können außerordentlich viel mitbestimmen, nicht zuletzt über sich selbst.

Ebenso verzerrend wie die abwertende Sicht der San ist ihre von positiven und romantisierenden Klischees bestimmte Einstufung als besonders friedliebend. Sicherlich erfordert das Zusammenleben in einer weitgehend so kargen Gegend gegenseitige Solidarität. Aber die San sind keineswegs „Halbwüstensofties“, die generell friedfertiger sind als andere Menschen.

Für das Verständnis der Bilder, des „!Xu + Khwe Cultural Projects“, ist eine kurze Darstellung der jüngsten geschichtlichen Vorgänge im südlichen Afrika unumgänglich. Viele Buschleute in Namibia und Angola dienten wegen der schwierigen Lebensumstände und mangels anderer Verdienstquellen für die südafrikanische Armee gegen die dortigen Befreiungsbewegungen. Als sich diese militärisch und politisch immer stärker zu behaupten wußten, zogen sich die Südafrikaner aus diesen Ländern zurück. Die San saßen nun gewissermaßen „zwischen allen Stühlen“ und fürchteten die Rache der Sieger. Im Jahr 1990 wurden deshalb 4000 Buschleute aus Angola ausgeflogen und in ein Flüchtlingslager in der Republik Südafrika umgesiedelt.

Den Menschen wurde so zwar zunächst das Leben gesichert, gleichzeitig verhindern die Umstände seitdem ein selbstbestimmtes und würdiges Leben. Ohne Heimat, ohne Arbeit, ohne Selbstbewusstsein, dafür mit umso mehr Alkohol entstand bei diesen Menschen eine beängstigende Perspektivenlosigkeit.

1994 wurde deshalb von einigen engagierten Menschenrechtlern, Ethnologen und Juristen das sogenannte „Cultural Project“ ins Leben gerufen, um diesen Menschen wieder Hoffnung und Selbstbewusstsein zu vermitteln. Ein Ergebnis dieses Projekts sind Linolschnitte und Ölbilder, bei denen sich eigene Traditionen in faszinierender Weise mit neuen Ideen und Materialien verbinden. In der Tat handelt es sich hierbei um völlig neue Ausdrucksformen ästhetischen Schaffens der Buschleute. Verbindungen mit den teilweise mehrere tausend Jahre alten Felsbildern im südlichen Afrika wären voreilig, weil man bislang nicht weiß, ob es sich bei den Schöpfern dieser alten Kunstwerke tatsächlich um Vorfahren der heutigen San-Gruppen handelt. Mit größerer Sicherheit kann man die modernen Bilder jedoch mit den berühmten Ritzungen auf den Straußeneiern in Verbindung bringen, die von den Buschleuten seit Jahrhunderten als Wasserspeicher verwendet werden.

München, Mai 1996